Hallihallo,
ich melde mich hier auch nochmal, um ein bisschen mein Gelaber und meine Storys loszuwerden. Macht auch einfach schon deswegen Sinn, weil sich mein Alltag in vielen Hinsichten sehr stark verändert hat, im Vergleich zu meinen ersten Monaten.
Ich stapfe durch den Regen bis zum CEAM. Es ist eindeutig kälter geworden in den letzten Wochen, schon allein merkbar an dem Geruch: In dem ganzen Viertel riecht es geradezu penetrant nach dem Rauch der Öfen der Häuser. Manchmal ist die dadurch entstehende Belastung der Luft so hoch, dass für eine Zeit lang das Heizen verboten wird. Durch das Fenster zum Nebenraum winke ich Don S. zu, der mit einem unserer Physiotherapeuten beschäftigt auf der Liege fleißig Übungen macht. Ich mache die Tür auf und betrete den warmen Hauptraum und begrüße mit einem lauten: "Buenos Días!". Ich stelle aufs neue fest wie ich mir ein Lächeln nicht verkneifen kann, wenn ich diesen Ort betrete. Ich fühle mich hier zuhause, und das doch obwohl ich anfangs garnicht begeistert davon war mit Senioren zu arbeiten. Täglich werden mir Seiten an mir bekannt von denen ich noch nichts gewusst hatte. Ich drehe meine tägliche Runde und nehme mir Zeit jeden Einzelnen zu begrüßen. Ein "Wo warst du so lange? Wir haben dich vermisst!" hier, ein "Die Kälte tut mir garnicht gut, ich habe mich erkältet" da. Da kommt Don S. aus dem Physiotherapeutenzimmer in Begleitung des Physio-Studenten und siehe da: ohne Rollstuhl! Don S. hatte einen Schlaganfall und sitzt seitdem im Rollstuhl; ich hatte ihn noch nie gehen sehen. Alle applaudieren und meine Chefin ruft: "Foto, Foto, Foto!!" und ich sprinte.
"Marleeeeeen!" schallt es aus dem Nebenzimmer. Es ist meine Gastschwester F. (Die Enkelin meiner Gastmutter). Ich wohne seit ein paar Wochen hier mit der Familie des Sohnes meiner eigentlichen Gastmutter und habe das Zimmer meines Gastbruders (Enkel meiner Gastmutter) bezogen. Dieser wohnt seit neuestem in Santiago zum studieren. Meine Gastmutter ist für einen Monat auf Reisen, deswegen das ganze heiopei. "Waaaas?" antworte ich und sie taucht in der Tür auf und streckt mir ihr Smartphone entgegen: "Wie geht es dir?" liest sie mir auf deutsch vor, "ist das richtig?" Ich nicke. Sie lernt deutsch, denn sie macht ab August ein Austauschjahr in Deutschland, worüber ich mich riesig freue. Über ihre Organisation hat sie einen Deutschen kennengelernt und schreibt ihm nun auf whatsapp, wie sie mir erklärt. Sie hüpft auf mein Bett. "Er will meine Aussprache hören, was soll ich sagen?" Ich lache und zeige ihr irgendeinen Satz meines geöffneten Laptops, voll mit geöffneten Uniseiten und anderem Bewerbungskrams. Wir lachen uns schief über die seltsame deutsche Sprache, aber wir kriegen es doch noch hin einen mehrmals geübten Satz per Sprachmemo zu verschicken. Und es ist wirklich wahr: Umso mehr ich mir das Spanisch angewöhne, umso mehr kapiere ich wie seltsam wir klingen müssen für andere Ohren. So wie eben jede unbekannte Fremdsprache irgendwie komisch klingt. So lacht sich F. immer noch über Wörter wie "Staatsangehörigkeit" kaputt, genauso wie ihr Vater meine wunderschöne, sanft- und wohlklingende Muttersprache verarscht indem er mir immer mit einem wie aus der Militärschule antrainierten JA!! oder NEIIN! antwortet. (Ich vermute er hat zu viele Hitler-Dokus geschaut)
Ich bin viiiiel zu spät dran. Ich verfluche innerlich mein halbwaches Ich, das es immer wieder aufs neue schafft statt den Schlummer-Modus meines Weckers einzustellen, ihn komplett auszuschalten. Um die Uhrzeit muss ich also klingeln um den Kindergarten betreten zu können. Schuldbewusst schaue ich in die Augen einer der Educadoras (studierte Erzieherinnen), die mir öffnet. Doch es scheint keinem weiter aufzufallen, kein Wunder, denn im großen Flur des Kindergarten ist die Hölle los bei gut 24 Kindern und 2 Erzieherinnen. Nachdem der Kindergarten im Sommer einen Monat lang geschlossen war, haben jetzt einige Erzieherinnen die Gruppen gewechselt und somit sind ganz neue Arbeitsteams entstanden. Bevor ich weiterhuschen konnte zu einem der Baby-Räume, wo ich bisher meine Zeit nach dem Sommer verbracht habe, ruft mich die Educadora: "Es wäre super, wenn du heute bei uns bleiben kannst!" Natürlich willige ich ein, und bald sehe ich schon das Problem: Eine Erzieherin dieser Gruppe ist krank und da viele neue Kinder dabei sind, läuft es drüber und drunter. Die Kinder sind noch nicht an die Regeln gewöhnt und noch dazu ist es die "Heterogéneo"-Gruppe (gemischt) mit verschieden alten Kindern von 2-4. Bei zwei Kindern vermutet die Educadora auch eine geistige Behinderung die nie diagnostiziert wurde; die Arbeit mit beiden gestaltet sich auch tatsächlich sehr schwierig.. Seitdem bleibe ich in dieser Gruppe - Arbeit wird hier selten knapp.
Ich fühle mich dezent unwohl als mich meine Chefin aus der Hospedería (Obdachlosen-Notunterkunft) anweist mich zu setzen. Sie deutet auf den Stuhl neben dem obersten Chef von Hogar de Cristo der Region. Man könnte sagen ich bin ein bisschen überfordert mit der Situation, denn ich hatte keinen Schimmer, dass die mir am Telefon angekündigte Spendenkampagne doch so groß aufgezogen werden würde. Ich hatte ein einfaches Frühstück mit den Obdachlosen und den Freiwilligen erwartet. Dass es hier um was größeres ging schnalle ich jetzt erst recht, da ich sehe wie mehrere regionale Journalisten eintreffen. Das Motto der diesjährigen Kampagne ist "Enojate - Involucrate" (Sei wütend! - Engagiere dich!), wie der Hogar de Cristo-Chef den Anwesenden erklärt. (Mein dummes Gesicht während der Ansprache durfte ich später in der Zeitung bewundern). Doch damit nicht genug: Später werde sogar ich interviewt und soll einen Spendenaufruf vermitteln. (Was zur Hölle? Ich hatte noch nie was mit dieser Kampagne zu tun?!) Und das ist also die Story, wie ich zu meinen zehn Sekunden Ruhm im Regionalfernsehen kam...
Nachtroute. Nicht immer das leichteste Pflaster. "Tíaa! Gibst du mir ein gekochtes Ei?" Ich bücke mich in den geöffneten Kofferraum und fische noch ein Ei heraus und gebe es dem Mädchen. Ich würde sie nicht älter als 20 schätzen. "Gibst du mir deinen Namen für die Liste?" Sie gibt ihn mir, und wie immer muss ich aufgrund von eingeschränkten Kenntnissen chilenischer Nachnamen mehrmals nachfragen. Mit verirrtem Blick nimmt sie das Ei mit der freien Hand. In der anderen hält sie eine Plastiktüte mit einer klaren Flüssigkeit, aus der sie eben noch inhaltiert hat. Riecht stark nach Benzin. Sie dreht sich um und setzt sich zu ein paar anderen auf die Stufen vor dem Busterminal. Wir treffen hier immer auf eine große Gruppe Jugendlicher. Mir wurde gesagt, sie wohnen alle zusammen in einem alten Fabrikgebäude um die Ecke. "Und wie funktioniert das hier was du hier machst, wo wohnst du denn hier?" fragt mich G., ein anderes Mädchen, dass zusammen mit ihrem Freund neben dem Auto steht. Man sieht ihr ihre Schwangerschaft mittlerweile schon sehr stark an. Ich erzähle ihr von meiner "Mama chilena", wie ich es gefühlt schon 1000 mal ausgedrückt habe. Sie antwortet mir in einem belustigten Ton: "Das ist ja unfair!? Du hast zwei Mamas, eine deutsche und eine chilenische? Ich hab nichtmal eine!"
Wir sind am zentralen Platz der Stadt, wie die Hogar de Cristo-Schlümpfe gekleidet mit Schürzen der aktuellen Kampagne. Ich bin mal wieder heilfroh, dass mein Spanisch bereits eindeutig besser ist als am Anfang, sodass ich mit der doch recht knappen Anweisung der Spendensammelbeauftragte wenigstens ein bisschen was anfangen konnte. Doch trotzdem kann ich den prompten ersten Fehler nicht vermeiden, denn dem ersten meinerseits angeschleppten Spender vergesse ich den Durchschlag des Vertrags auszuhändigen.. Naja niemand ist perfekt. Beim nächsten Fisch am Haken, läuft es jedoch weitaus frustrierender. Hatte ich schonmal erwähnt wie frustrierend es hier sein kann blond, blauäugig und hellhäutig zu sein? Ich merke schnell, dass mein gegenüber wenig Interesse an Hogar de Cristo hat und stattdessen anfängt mit mir zu flirten. Mir wird das zu dumm und will gehen, doch er hält mich hin. Irgendwie schaffe ich es doch tatsächlich noch, dass er den Wisch unterschreibt und ich gehen kann. Moment mal... Habe ich grade ernsthaft mein Aussehen genutzt um einen Dauerspender zu verpflichten?!?
Ich stehe unten vor dem riesigen Backsteinklotz von Gebäude, dass sich da mein zuhause nennt und drücke die Klingel. Über eine Kamera erkennt mich der Portier und öffnet mir das Tor in der Mauer um das Grundstück per Knopfdruck von innen und kommt mir an die Tür entgegen um sie mir zu öffnen, während ich am Pool vorbei bis in den EIngangsbereich schreite. Der Portier lächelt mich breit an: "Hola Señorita, wie geht es dir?" - Bevor ich mit einem "Gut und Ihnen?" antworten kann, verkündet er mir er habe mein Fahrrad reparieren können. "Wie? Im Ernst? Danke!!" Ich bin komplett überrascht, er hatte zwar angeboten, sich das mal anzuschauen, aber ich habe garnicht damit gerechnet, dass das tatsächlich klappen würde. Wirklich aufs neue unfassbar, wie mir hier mal wieder einfach so ohne wenn und aber weiter geholfen wird, als wäre das selbstverständlich. Über solche Momente bin ich so unglaublich dankbar. Ich bedanke mich noch 5 mal und schau mir kurz das Ergebnis auf dem Parkplatz an, bevor ich in den Aufzug steige. Während ich hinaufsause, das Parkett und mich selbst in den drei Spiegelwänden mustere, stelle ich wieder mal fest wie surreal mir das alles hier vorkommt, dieser Luxus. Oder sind es doch die Realitäten auf der Arbeit die mir surreal vorkommen? Mir fällt es nach wie vor schwer die beiden Bilder Chiles zu vereinen und muss mir auch ehrlich eingestehen, wie schwer es mir vor allem am Anfang fiel mit dieser Situation, sich von beiden Welten hin und her zu bewegen, umzugehen. Mich zum Beispiel schon zu schämen wenn ich jemandem erzähle wo und wie ich mit meiner Gastfamillie wohne oder andersherum das Gefühl zu haben, meiner Gastmutter besser nicht so genau zu erzählen wo der/die Freund(in) genau wohnt, wo ich eingeladen bin. Ich stecke mittendrin in einem der meiner Meinung nach größten Probleme Chiles (Und genug anderen Ländern dieser Welt), der sozialen Ungleichheit, des Schichtendenkens und den Voruteilen zwischen Arm und Reich beiderseits. Der tägliche Wechsel zwischen stark vereinfacht gesagt "Cuicos" (negativ behafteter Begriff für die wohlhabende Bevölkerung) und "Flaites" ( ~ "Assis", negativ behafteter Begriff für ärmere, bildungsfernere Bevölkerung). Und irgendwo zwischen vielen verschiedenen Menschen und ihren Wahrheiten; Konservative vs. Sozialisten, Pinochet (Ex-Diktator) vs Allende (stark sozialistischer Präsident, dessen Regierung durch Pinochet geputscht wurde) und vieles, vieles mehr... Und was maße ich mir eigentlich an irgendetwas davon zu bewerten, geschweige denn verstehen zu können, da ich weder die Lebensgeschichten, noch die Gründe für bestimmte Situationen kenne, die sie zu diesen Einstellungen geführt haben? Ich hoffe man versteht wenigstens ein bisschen meinen täglichen brainsalat?
Vielen Dank fürs Lesen, wie immer. Es sind noch tausend andere Geschichten die ich erzählen könnte und für viele habe ich nichtmal die Worte sie zu beschreiben. Ich glaube man kann sich garnicht vorstellen, wie schwer mir die paar Zeilen grade gefallen sind. Ständig diese Frage: Soll ich das schreiben oder besser nicht? Gehört diese Erinnerung allein mir bzw. gehört die überhaupt ins Internet? Gebe ich eventuell ein falsches oder verzerrtes Bild ab? Also wieder einmal der Aufruf, meine Faseleien als Erfahrung von einer Person unter vielen zu beurteilen, die natürlich immer durch meine subjektive Wahrnehmung gespiegelt wird.
Noch zwei Monate.
Liebe Grüße
Marlene
ich melde mich hier auch nochmal, um ein bisschen mein Gelaber und meine Storys loszuwerden. Macht auch einfach schon deswegen Sinn, weil sich mein Alltag in vielen Hinsichten sehr stark verändert hat, im Vergleich zu meinen ersten Monaten.
Ich stapfe durch den Regen bis zum CEAM. Es ist eindeutig kälter geworden in den letzten Wochen, schon allein merkbar an dem Geruch: In dem ganzen Viertel riecht es geradezu penetrant nach dem Rauch der Öfen der Häuser. Manchmal ist die dadurch entstehende Belastung der Luft so hoch, dass für eine Zeit lang das Heizen verboten wird. Durch das Fenster zum Nebenraum winke ich Don S. zu, der mit einem unserer Physiotherapeuten beschäftigt auf der Liege fleißig Übungen macht. Ich mache die Tür auf und betrete den warmen Hauptraum und begrüße mit einem lauten: "Buenos Días!". Ich stelle aufs neue fest wie ich mir ein Lächeln nicht verkneifen kann, wenn ich diesen Ort betrete. Ich fühle mich hier zuhause, und das doch obwohl ich anfangs garnicht begeistert davon war mit Senioren zu arbeiten. Täglich werden mir Seiten an mir bekannt von denen ich noch nichts gewusst hatte. Ich drehe meine tägliche Runde und nehme mir Zeit jeden Einzelnen zu begrüßen. Ein "Wo warst du so lange? Wir haben dich vermisst!" hier, ein "Die Kälte tut mir garnicht gut, ich habe mich erkältet" da. Da kommt Don S. aus dem Physiotherapeutenzimmer in Begleitung des Physio-Studenten und siehe da: ohne Rollstuhl! Don S. hatte einen Schlaganfall und sitzt seitdem im Rollstuhl; ich hatte ihn noch nie gehen sehen. Alle applaudieren und meine Chefin ruft: "Foto, Foto, Foto!!" und ich sprinte.
"Marleeeeeen!" schallt es aus dem Nebenzimmer. Es ist meine Gastschwester F. (Die Enkelin meiner Gastmutter). Ich wohne seit ein paar Wochen hier mit der Familie des Sohnes meiner eigentlichen Gastmutter und habe das Zimmer meines Gastbruders (Enkel meiner Gastmutter) bezogen. Dieser wohnt seit neuestem in Santiago zum studieren. Meine Gastmutter ist für einen Monat auf Reisen, deswegen das ganze heiopei. "Waaaas?" antworte ich und sie taucht in der Tür auf und streckt mir ihr Smartphone entgegen: "Wie geht es dir?" liest sie mir auf deutsch vor, "ist das richtig?" Ich nicke. Sie lernt deutsch, denn sie macht ab August ein Austauschjahr in Deutschland, worüber ich mich riesig freue. Über ihre Organisation hat sie einen Deutschen kennengelernt und schreibt ihm nun auf whatsapp, wie sie mir erklärt. Sie hüpft auf mein Bett. "Er will meine Aussprache hören, was soll ich sagen?" Ich lache und zeige ihr irgendeinen Satz meines geöffneten Laptops, voll mit geöffneten Uniseiten und anderem Bewerbungskrams. Wir lachen uns schief über die seltsame deutsche Sprache, aber wir kriegen es doch noch hin einen mehrmals geübten Satz per Sprachmemo zu verschicken. Und es ist wirklich wahr: Umso mehr ich mir das Spanisch angewöhne, umso mehr kapiere ich wie seltsam wir klingen müssen für andere Ohren. So wie eben jede unbekannte Fremdsprache irgendwie komisch klingt. So lacht sich F. immer noch über Wörter wie "Staatsangehörigkeit" kaputt, genauso wie ihr Vater meine wunderschöne, sanft- und wohlklingende Muttersprache verarscht indem er mir immer mit einem wie aus der Militärschule antrainierten JA!! oder NEIIN! antwortet. (Ich vermute er hat zu viele Hitler-Dokus geschaut)
Ich bin viiiiel zu spät dran. Ich verfluche innerlich mein halbwaches Ich, das es immer wieder aufs neue schafft statt den Schlummer-Modus meines Weckers einzustellen, ihn komplett auszuschalten. Um die Uhrzeit muss ich also klingeln um den Kindergarten betreten zu können. Schuldbewusst schaue ich in die Augen einer der Educadoras (studierte Erzieherinnen), die mir öffnet. Doch es scheint keinem weiter aufzufallen, kein Wunder, denn im großen Flur des Kindergarten ist die Hölle los bei gut 24 Kindern und 2 Erzieherinnen. Nachdem der Kindergarten im Sommer einen Monat lang geschlossen war, haben jetzt einige Erzieherinnen die Gruppen gewechselt und somit sind ganz neue Arbeitsteams entstanden. Bevor ich weiterhuschen konnte zu einem der Baby-Räume, wo ich bisher meine Zeit nach dem Sommer verbracht habe, ruft mich die Educadora: "Es wäre super, wenn du heute bei uns bleiben kannst!" Natürlich willige ich ein, und bald sehe ich schon das Problem: Eine Erzieherin dieser Gruppe ist krank und da viele neue Kinder dabei sind, läuft es drüber und drunter. Die Kinder sind noch nicht an die Regeln gewöhnt und noch dazu ist es die "Heterogéneo"-Gruppe (gemischt) mit verschieden alten Kindern von 2-4. Bei zwei Kindern vermutet die Educadora auch eine geistige Behinderung die nie diagnostiziert wurde; die Arbeit mit beiden gestaltet sich auch tatsächlich sehr schwierig.. Seitdem bleibe ich in dieser Gruppe - Arbeit wird hier selten knapp.
Ich fühle mich dezent unwohl als mich meine Chefin aus der Hospedería (Obdachlosen-Notunterkunft) anweist mich zu setzen. Sie deutet auf den Stuhl neben dem obersten Chef von Hogar de Cristo der Region. Man könnte sagen ich bin ein bisschen überfordert mit der Situation, denn ich hatte keinen Schimmer, dass die mir am Telefon angekündigte Spendenkampagne doch so groß aufgezogen werden würde. Ich hatte ein einfaches Frühstück mit den Obdachlosen und den Freiwilligen erwartet. Dass es hier um was größeres ging schnalle ich jetzt erst recht, da ich sehe wie mehrere regionale Journalisten eintreffen. Das Motto der diesjährigen Kampagne ist "Enojate - Involucrate" (Sei wütend! - Engagiere dich!), wie der Hogar de Cristo-Chef den Anwesenden erklärt. (Mein dummes Gesicht während der Ansprache durfte ich später in der Zeitung bewundern). Doch damit nicht genug: Später werde sogar ich interviewt und soll einen Spendenaufruf vermitteln. (Was zur Hölle? Ich hatte noch nie was mit dieser Kampagne zu tun?!) Und das ist also die Story, wie ich zu meinen zehn Sekunden Ruhm im Regionalfernsehen kam...
Nachtroute. Nicht immer das leichteste Pflaster. "Tíaa! Gibst du mir ein gekochtes Ei?" Ich bücke mich in den geöffneten Kofferraum und fische noch ein Ei heraus und gebe es dem Mädchen. Ich würde sie nicht älter als 20 schätzen. "Gibst du mir deinen Namen für die Liste?" Sie gibt ihn mir, und wie immer muss ich aufgrund von eingeschränkten Kenntnissen chilenischer Nachnamen mehrmals nachfragen. Mit verirrtem Blick nimmt sie das Ei mit der freien Hand. In der anderen hält sie eine Plastiktüte mit einer klaren Flüssigkeit, aus der sie eben noch inhaltiert hat. Riecht stark nach Benzin. Sie dreht sich um und setzt sich zu ein paar anderen auf die Stufen vor dem Busterminal. Wir treffen hier immer auf eine große Gruppe Jugendlicher. Mir wurde gesagt, sie wohnen alle zusammen in einem alten Fabrikgebäude um die Ecke. "Und wie funktioniert das hier was du hier machst, wo wohnst du denn hier?" fragt mich G., ein anderes Mädchen, dass zusammen mit ihrem Freund neben dem Auto steht. Man sieht ihr ihre Schwangerschaft mittlerweile schon sehr stark an. Ich erzähle ihr von meiner "Mama chilena", wie ich es gefühlt schon 1000 mal ausgedrückt habe. Sie antwortet mir in einem belustigten Ton: "Das ist ja unfair!? Du hast zwei Mamas, eine deutsche und eine chilenische? Ich hab nichtmal eine!"
Wir sind am zentralen Platz der Stadt, wie die Hogar de Cristo-Schlümpfe gekleidet mit Schürzen der aktuellen Kampagne. Ich bin mal wieder heilfroh, dass mein Spanisch bereits eindeutig besser ist als am Anfang, sodass ich mit der doch recht knappen Anweisung der Spendensammelbeauftragte wenigstens ein bisschen was anfangen konnte. Doch trotzdem kann ich den prompten ersten Fehler nicht vermeiden, denn dem ersten meinerseits angeschleppten Spender vergesse ich den Durchschlag des Vertrags auszuhändigen.. Naja niemand ist perfekt. Beim nächsten Fisch am Haken, läuft es jedoch weitaus frustrierender. Hatte ich schonmal erwähnt wie frustrierend es hier sein kann blond, blauäugig und hellhäutig zu sein? Ich merke schnell, dass mein gegenüber wenig Interesse an Hogar de Cristo hat und stattdessen anfängt mit mir zu flirten. Mir wird das zu dumm und will gehen, doch er hält mich hin. Irgendwie schaffe ich es doch tatsächlich noch, dass er den Wisch unterschreibt und ich gehen kann. Moment mal... Habe ich grade ernsthaft mein Aussehen genutzt um einen Dauerspender zu verpflichten?!?
Ich stehe unten vor dem riesigen Backsteinklotz von Gebäude, dass sich da mein zuhause nennt und drücke die Klingel. Über eine Kamera erkennt mich der Portier und öffnet mir das Tor in der Mauer um das Grundstück per Knopfdruck von innen und kommt mir an die Tür entgegen um sie mir zu öffnen, während ich am Pool vorbei bis in den EIngangsbereich schreite. Der Portier lächelt mich breit an: "Hola Señorita, wie geht es dir?" - Bevor ich mit einem "Gut und Ihnen?" antworten kann, verkündet er mir er habe mein Fahrrad reparieren können. "Wie? Im Ernst? Danke!!" Ich bin komplett überrascht, er hatte zwar angeboten, sich das mal anzuschauen, aber ich habe garnicht damit gerechnet, dass das tatsächlich klappen würde. Wirklich aufs neue unfassbar, wie mir hier mal wieder einfach so ohne wenn und aber weiter geholfen wird, als wäre das selbstverständlich. Über solche Momente bin ich so unglaublich dankbar. Ich bedanke mich noch 5 mal und schau mir kurz das Ergebnis auf dem Parkplatz an, bevor ich in den Aufzug steige. Während ich hinaufsause, das Parkett und mich selbst in den drei Spiegelwänden mustere, stelle ich wieder mal fest wie surreal mir das alles hier vorkommt, dieser Luxus. Oder sind es doch die Realitäten auf der Arbeit die mir surreal vorkommen? Mir fällt es nach wie vor schwer die beiden Bilder Chiles zu vereinen und muss mir auch ehrlich eingestehen, wie schwer es mir vor allem am Anfang fiel mit dieser Situation, sich von beiden Welten hin und her zu bewegen, umzugehen. Mich zum Beispiel schon zu schämen wenn ich jemandem erzähle wo und wie ich mit meiner Gastfamillie wohne oder andersherum das Gefühl zu haben, meiner Gastmutter besser nicht so genau zu erzählen wo der/die Freund(in) genau wohnt, wo ich eingeladen bin. Ich stecke mittendrin in einem der meiner Meinung nach größten Probleme Chiles (Und genug anderen Ländern dieser Welt), der sozialen Ungleichheit, des Schichtendenkens und den Voruteilen zwischen Arm und Reich beiderseits. Der tägliche Wechsel zwischen stark vereinfacht gesagt "Cuicos" (negativ behafteter Begriff für die wohlhabende Bevölkerung) und "Flaites" ( ~ "Assis", negativ behafteter Begriff für ärmere, bildungsfernere Bevölkerung). Und irgendwo zwischen vielen verschiedenen Menschen und ihren Wahrheiten; Konservative vs. Sozialisten, Pinochet (Ex-Diktator) vs Allende (stark sozialistischer Präsident, dessen Regierung durch Pinochet geputscht wurde) und vieles, vieles mehr... Und was maße ich mir eigentlich an irgendetwas davon zu bewerten, geschweige denn verstehen zu können, da ich weder die Lebensgeschichten, noch die Gründe für bestimmte Situationen kenne, die sie zu diesen Einstellungen geführt haben? Ich hoffe man versteht wenigstens ein bisschen meinen täglichen brainsalat?
Vielen Dank fürs Lesen, wie immer. Es sind noch tausend andere Geschichten die ich erzählen könnte und für viele habe ich nichtmal die Worte sie zu beschreiben. Ich glaube man kann sich garnicht vorstellen, wie schwer mir die paar Zeilen grade gefallen sind. Ständig diese Frage: Soll ich das schreiben oder besser nicht? Gehört diese Erinnerung allein mir bzw. gehört die überhaupt ins Internet? Gebe ich eventuell ein falsches oder verzerrtes Bild ab? Also wieder einmal der Aufruf, meine Faseleien als Erfahrung von einer Person unter vielen zu beurteilen, die natürlich immer durch meine subjektive Wahrnehmung gespiegelt wird.
Noch zwei Monate.
Liebe Grüße
Marlene